Die Neuraltherapie und die therapeutische Lokalanästhesie mögen auf den ersten Blick ähnlich erscheinen, da in beiden Verfahren Lokalanästhetika verwendet werden. Jedoch gibt es grundlegende Unterschiede in den Zielen, Methoden und zugrundeliegenden Konzepten, die beide voneinander abgrenzen. Während die therapeutische Lokalanästhesie primär als eine schmerztherapeutische Maßnahme fungiert, ist die Neuraltherapie ein komplexer, diagnostisch-therapeutischer Ansatz, der tiefergehende physiologische Zusammenhänge berücksichtigt. In diesem Artikel wird verdeutlicht, warum die Neuraltherapie weit mehr als nur eine Technik zur Schmerzbehandlung ist und wieso sie einen diagnostischen Hintergrund besitzt, der sie von der reinen therapeutischen Lokalanästhesie unterscheidet.
1. Neuraltherapie: Diagnose und Therapie in Einklang
Die Neuraltherapie geht weit über die rein symptomatische Behandlung von Schmerzen hinaus. Sie basiert auf der Annahme, dass Störungen im vegetativen Nervensystem, insbesondere im Segmentbereich, über Jahre hinweg chronische Beschwerden auslösen können. Eine der Besonderheiten der Neuraltherapie ist, dass etwa 70 % der Behandlung in der Diagnose der zugrundeliegenden Störfelder und Regulationsstörungen liegt, während nur 30 % die Therapie selbst ausmachen.
Neuraltherapeuten berücksichtigen nicht nur das lokale Schmerzgebiet, sondern suchen nach tieferliegenden Ursachen, die oftmals in anderen Körperregionen liegen. Dies erfolgt durch Injektionen in bestimmte Areale des Körpers, die mit Störfeldern oder segmentalen Strukturen verbunden sind. Die Neuraltherapie fokussiert sich darauf, Regulationsstörungen zu erkennen, die das vegetative Nervensystem betreffen. Durch die Injektion von Lokalanästhetika (meist Procain oder Lidocain) werden Störfelder deaktiviert und damit der Heilungsprozess im gesamten Organismus aktiviert.
Ein Neuraltherapeut achtet besonders auf die Beeinflussung des sympathischen und parasympathischen Nervensystems, welches im Verlauf von Erkrankungen oft aus dem Gleichgewicht gerät. Durch gezielte Injektionen kann das gestörte Gleichgewicht wiederhergestellt werden, was wiederum die Selbstheilungskräfte des Körpers anregt.
2. Therapeutische Lokalanästhesie: Symptomatische Schmerzbehandlung
Im Gegensatz zur Neuraltherapie ist die therapeutische Lokalanästhesie primär auf die symptomatische Behandlung von Schmerzen ausgerichtet. Sie wird häufig in der Schmerztherapie verwendet und zielt darauf ab, das Schmerzempfinden lokal zu blockieren. Dabei wird nicht nur ein Lokalanästhetikum eingesetzt, sondern oft auch Cortison, um entzündungshemmende Effekte zu erzielen. Hierbei steht der lokale Schmerz im Vordergrund, und die Injektion erfolgt genau an die Stelle, die der Patient als schmerzhaft empfindet.
Während die therapeutische Lokalanästhesie in der Regel nicht auf die Diagnostik von Störfeldern oder segmentalen Regulationsstörungen abzielt, fokussiert sie sich auf eine lokale und temporäre Schmerzlinderung. Es geht dabei nicht um das vegetative Nervensystem oder eine mögliche Gesamtregulation des Organismus, sondern um eine kurzfristige Reduktion der Schmerzsymptomatik.
3. Der diagnostische Hintergrund der Neuraltherapie
Die Neuraltherapie hat ihren Ursprung im Diese Methode basiert auf der Idee, dass eine chronische Entzündung oder eine vegetative Fehlregulation im Körper verschiedene, oft auch weit entfernte Körperregionen beeinflussen kann. Daher werden Neuraltherapeuten besonders darauf trainiert, über den Tellerrand hinauszublicken und nach zugrundeliegenden Störungen zu suchen, die auf den ersten Blick nichts mit den Symptomen des Patienten zu tun haben.
Ein neuraltherapeutischer Ansatz bedarf also einer genauen Kenntnis des Nervensystems und der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Körperregionen. Diese diagnostische Komponente unterscheidet die Neuraltherapie grundlegend von der therapeutischen Lokalanästhesie. Während letztere primär eine symptomatische Behandlung darstellt, ist die Neuraltherapie eine tiefgehende Methode zur Wiederherstellung des gestörten vegetativen Gleichgewichts, oft in Zusammenhang mit Störfeldern, die auf alte Verletzungen, Infektionen oder Narben zurückzuführen sind.
4. Neuraltherapie als ärztliche Tätigkeit
Es ist wichtig zu betonen, dass die Neuraltherapie eine ärztliche Disziplin ist, die nicht nur therapeutische, sondern vor allem diagnostische Fähigkeiten erfordert. Dies unterscheidet sie sowohl von der therapeutischen Lokalanästhesie als auch von anderen manuellen Verfahren. Ärzte, die Neuraltherapie anwenden, sind darauf geschult, tiefgehende Zusammenhänge zu erkennen und individuell auf den Patienten abgestimmte Behandlungsstrategien zu entwickeln. Neuraltherapie ist daher nicht nur eine Technik zur Schmerztherapie, sondern ein umfassender Behandlungsansatz, der das gesamte Regulationssystem des Körpers berücksichtigt.
5. Manuelle Medizin und Neuraltherapie im Vergleich
Die manuelle Medizin, wie auch die Neuraltherapie, umfasst sowohl diagnostische als auch therapeutische Aspekte. Sie wird von Fachärzten praktiziert, die eine umfangreiche Ausbildung durchlaufen haben. Im Unterschied zur manuellen Therapie, die hauptsächlich von Physiotherapeuten durchgeführt wird, beinhaltet die manuelle Medizin eine eingehende Diagnostik der Funktionsstörungen des Bewegungsapparates. Auch hier wird – wie in der Neuraltherapie – nicht nur eine therapeutische Maßnahme angewendet, sondern es wird ein fundiertes diagnostisches Wissen vorausgesetzt. Manuelle Medizin und Neuraltherapie sind also ärztliche Tätigkeiten, die auf tiefgreifender Diagnostik basieren.
Fazit: Neuraltherapie als umfassende ärztliche Methode
Die Neuraltherapie darf nicht mit der therapeutischen Lokalanästhesie gleichgestellt werden. Sie ist weit mehr als nur eine Methode zur Schmerzreduktion und beruht auf einem tiefgehenden diagnostischen Ansatz, der das vegetative Nervensystem und segmentale Störfelder berücksichtigt. Durch gezielte Injektionen an spezifischen Stellen des Körpers wird das gestörte Gleichgewicht im vegetativen Nervensystem wiederhergestellt, was letztlich den Heilungsprozess im gesamten Organismus unterstützt. Als ärztliche Tätigkeit erfordert die Neuraltherapie ein tiefes Verständnis für die zugrundeliegenden physiologischen und pathophysiologischen Zusammenhänge, die weit über eine symptomatische Schmerzbehandlung hinausgehen.
Prof. Dr. med. Dr. med. Hüseyin Nazlikul
Präsident der Internationaler Dachverband der Medizinischen Gesellschaften für Neuraltherapie (IFMANT)